Wir haben eine stark gekürzte Fassung unseres Programms als Video auf YouTube:
​
Lömsch Lehmann - Clarinet, Saxophone, Voice
Matthias Debus Bass, Voice, Samples
Erwin Ditzner - Drums, Percussions
Wagner? Klingt groß. Sehr groß, grandios. Klingt nach archaischen Mythen und komplexen Konstrukten von Impuls und Reaktion, Harmonie und Dissonanz. Nach dauerhaft haltbaren, melodischen Motiven und ästhetischer Überwältigung als Programm. Noch bevor auch nur das Geringste über den Komponisten Richard Wagner, seine Musik und seine Kür zum deutschen Nationalheiligtum gesagt ist, klingen die Glocken: Wagner? Irgendwie: verbohrt und deutsch – und zugleich voller geheimnisvoller Reize.
Ein improvisierendes Trio ist nicht das, woran man beim Namen Wagner als erstes denkt. Im Jazz ist das Trio die ideale Verkörperung des Gleichgewichts im dreidimensionalen Raum, es repräsentiert die Idee des Gedankenaustauschs zwischen gleichberechtigten Partnern. Gleichzeitig handelt es sich um eine fragile Form, delikat bis zerbrechlich, kühl und konzentriert. Die Idee, musikalische Motive aus dem Schaffen von Richard Wagner aus der Perspektive eines Trios, das sich auf enorme Erfahrung im Bereich der gegenwärtigen und avantgardistischen Improvisationsmusik stützt, neu zu erfinden, ist jedenfalls eine Herausforderung.
Es mag ein Zufall sein, aber alle drei Musiker, die sich zusammengetan haben, um „Die Motive des Richard W.“ neu zu beleben, stammen aus der Rheinpfalz, der Region des Rheingolds in der Nibelungensage, und ganz offenbar sind sie der Musik von Richard Wagner verbunden. Durch eine jugendliche Begegnung mit „Tristan und Isolde“ inspiriert trat der Klarinettist und Saxofonist Lömsch Lehmann anlässlich des 200. Geburtstages von Richard Wagner vor einigen Jahren mit der Idee, Wagner-Motive als Ankerpunkte für ein Duo-Projekt zu nutzen, an den Bassisten Matthias TC Debus heran. Der Einstieg des Schlagzeugers und Perkussionisten Erwin Ditzner, eines Musikers, der es versteht, improvisierter Musik durch radikale Reduktion Klarheit und Stringenz einzuimpfen, komplettierte das musikalische Kräftedreieck.
Ausgehend von Lömsch Lehmanns Prolog in einer fast schon klassischen anmutenden Lesart auf der Klarinette schmieden die drei Musiker aus einer Auswahl des uferlosen motivischen Materials aus Wagners Ring-Zyklus einen dramaturgisch geschlossenen Bogen, einen ganz anderen „Ring“, in dem die Musik sich des semantischen Überschusses entledigt und in der pastellenen Vielfalt ihrer Farben und ihrer unerhörten Zerbrechlichkeit eine ganz ungeschützte Individualität und emotionale Tiefe hervorkehrt.
Gewissermaßen entwerfen die drei Musiker in „Die Motive des Richard W.“ ein großes Crescendo, das von einem klassisch anmutenden Prolog der Soloklarinette bis zur Katharsis in einem Finale steigert, das in seiner kinetischen Wucht die Höllenglocken des Hard Rock in den Schatten stellt, bevor das Trio in der leisen Verzweiflung der Liebes-Entsagung wieder zurück auf den Boden kommt. Nur mit der Kraft ihrer Instrumente, deren Klangspektrum sie bis in die entlegenen, geräuschhaften Schichten ausweiten und unter gelegentlichem Einsatz ihrer Stimmen als harmonisch grundierendem Hintergrund entfalten Lehmann, Debus und Ditzner ein musikalisches Diorama voller harscher Kontraste, ständig in Bewegung, in Wandlung begriffen, geprägt von mitreißender Klarheit und Zwangsläufigkeit und frei von allem Bombast. Eine große Musik in zarter Gestalt.
Stefan Hentz